Die wenigen Wochen des Jahres, die sie wie gewohnt irgendwo in den Bergen verbrachte, neigten sich wieder einmal ihrem Ende entgegen.

Ein vorläufig letztes Mal noch erwartete sie bei einem kräftigen Frühstück in der wohligen Stube den Augenblick, da die ersten Sonnenstrahlen den mächtigen Bergkamm, der durch das kleine Fenster des Zimmers bequem von ihrem Sitzplatz aus zu betrachten war, erklommen, um ihr das vertraute Zeichen zum Aufbruch zu geben.

Einstweilen zogen draußen noch einige Schwaden klammen Morgennebels umher und die Erde dampfte mit dem heißen Kaffee in ihrer Tasse um die Wette. Alles deutete darauf hin, dass es erneut einen spätsommerlich warmen Tag geben würde, beste Voraussetzungen also für ihr heutiges Vorhaben.

Mehrmals hatten ihre Augen bereits den Berg aus einiger Entfernung betastet und sein imposantes Erscheinungsbild aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen. Verändert gab er sich dabei stets, doch ohne auch nur das Geringste dieser ihm eigentümlichen Atmosphäre zu verlieren, die ihn zu jeder Stunde umgab.

Gewiss, es war nur ein Berg wie viele andere in diesem Land, aber dennoch war seine Wirkung bisweilen merkwürdig irritierend, als sei nicht allein er es, den man hier eingehend betrachten könne, sondern als sei vielmehr der Berg derjenige, der aus unsichtbaren Augen, mal gutmütig und wohlwollend, mal grimmig und grollend, das Treiben seiner Beobachter verfolge.

Wiederholt war sie den Berg im Geiste hinaufgestiegen, hatte noch am Vorabend sein Antlitz erkundet und verglichen mit der topographischen Karte. Sie kannte die gängigen Routen, die aus drei Richtungen zum Gipfel führten. Sie hatte sich auch die Linienführung des von ihr gewählten Wegverlaufs anhand markanter Punkte der Geländeform eingeprägt, sich über die Gesteinsbeschaffenheit informiert und sodann die voraussichtliche Gehzeit ermittelt.

Ja, sie hielt sich für gut vorbereitet auf diesen Berg, an dem es erschaunlicherweise nirgendwo Wasser zu geben schien, keinen ungestümen Gebirgsbach, nur einige Schneeflecken würde es vielleicht noch geben, die ein wenig verrinnende Kühle zu spenden vermöchten.

Und schließlich hatte sie noch herausgefunden, dass für den Fall unvorhergesehener Ereignisse auch eine kleine Biwackschachtel kurz unterhalb des Gipfels stehe, die gegebenenfalls als Notunterkunft bei Wetterstürzen oder anderen Geschehnissen dienen könnte.

So gesehen war der Berg in gewisser Weise längst ein alter Bekannter, zu dem sie sich nun endlich aufmachte, indem sie entschlossen nach ihrem prall gefüllten Rucksack griff, der nach ihrer Einschätzung alles enthielt, was für ein solches Unternehmen vonnöten war, als eben gerade der äußerste Strahlenkranz der Sonne den Horizont überschritt.

Mit einem letzten prüfenden Blick ging sie noch einmal durch den Raum, um zu schauen, ob sie nichts vergessen habe, dann öffnete sie die Haustür, deren altersschwache Gelenke sich ihr knarrend mitteilten und trat ins Freie.

Die Frische der klaren Morgenluft schlug ihr unvermittelt entgegen, als sie leichten Schrittes die letzten Häuser der kleinen Ansiedlung, die sich inmitten saftiger, noch taufeuchter Wiesen erhob, hinter sich ließ und zwischen den hohen Stämmen der Nadelgehölze in den Bergwald eintauchte.